Es hat leicht geregnet in Simmering, der Asphalt vor dem modernen Bürogebäude ist noch nass. Aber die Mitglieder des Blasorchesters der Wiener Netze lassen sich nicht beirren. Zwischen Stromtankstelle und Einfahrtstor ist genug Platz, um Aufstellung zu nehmen und die mittlerweile eingelernten Abstände für die Babyelefanten frei zu lassen.
Die Geburtstagskinder des Monats dürfen sich zu Beginn der Probe ein Stück wünschen. Einer sagt an, alle blättern in ihren mitgebrachten regenfesten Musikbüchern und spannen diese mit der richtigen Seite in ihren Notenständer. Und schon geht es los. Ein schwungvoller Marsch ertönt aus den Hörnern, die große Trommel schlägt den Takt. Doch wo ist der Dirigent?
Probe mit Zaungästen
Der Dirigent heißt in einem Blasmusikorchester natürlich Kapellmeister. Bei den Wiener Netzen ist das Michael Holzer. Die MusikerInnen haben heute schon mal ohne ihn begonnen, weil er noch aus dem Proberaum etwas holen musste. Aber geht das so einfach? Kann ein Orchester auch ohne Kapellmeister spielen? „Manchmal sogar besser, “ sagt der herbeieilende Michael Holzer mit einem Zwinkern: „Wir haben einmal bei einem Konzert im Wiener Rathauspark ein ganz neues Stück gespielt. Das war auch für mich so neu, dass ich mittendrin nicht mehr gewusst habe, an welcher Stelle wir sind. Da hab‘ ich meinen MusikerInnen zugeraunt: ‚Spielt’s weiter – ich weiß nicht mehr, wo wir sind…‘ Und niemand hat es bemerkt!“
Dass es mit und ohne Kapellmeister schön klingt, finden auch die BewohnerInnen des gegenüberliegenden Wohnbaus: Sie haben ihre Fenster geöffnet und lauschen herüber.
Musik verbindet
„Viele Menschen, die in ihrer Heimatgemeinde ein Instrument gelernt haben und die es dann nach Wien verschlagen hat, suchen nach einer Möglichkeit zu spielen und das Erlernte nicht zu vergessen“, erklärt Michi Holzer. So kommt es, dass im Blasorchester der Wiener Netze nicht nur WienerInnen spielen. “Sogar Musiker aus Südtirol spielen mit uns traditionelle klassische Blasmusikstücke. Einzig aus Salzburg ist aktuell niemand dabei – aber jederzeit herzlich willkommen,“ sagt Günter Rudolf, der Obmann des Orchesters. Die jüngste ist gerade 18 geworden und spielt Querflöte, der älteste Musiker ist stolz auf seine 88 Jahre und seit 1950 im Orchester aktiv.
„Wir haben derzeit 13 Frauen und 37 Männer in unserem Orchester, die gerne gemeinsam musizieren,“ erzählt Rudolf. „Und wir freuen uns über jeden und jede, der bzw. die mitmachen mag! Alle Blasmusikbegeisterten sind herzlich eingeladen, vorbeizukommen. Dabei muss man gar nicht bei den Wiener Netzen arbeiten, um hier mitzuspielen“, führt der Obmann aus.
Zusammenhalt im Lockdown
Einmal in der Woche spielen die BlasmusikerInnen gemeinsam im Proberaum der Wiener Netze in Simmering auf. Zumindest war das bis vor dem Ausbruch der Coronapanedemie so. Momentan wird auch oft im Freien oder vor den Bildschirmen musiziert – ja, auch über Videokonferenzen ist eine Probe möglich.
„Wobei uns in Zeiten von Corona der soziale Aspekt unseres Vereins ganz besonders wichtig,“ sagt Kapellmeister Michael Holzer. „Musik verbindet“, bestätigt auch Edith Müller, die im Orchester das Waldhorn spielt.
„Es ist schon auch die Kameradschaft, die einen bewegt zur Probe zu kommen und mitzumachen. Und die Generationen harmonieren wunderbar.“
„Als Waldhorn bin ich bei der Wiener Netze-Blasmusik ein ‚Ein-Horn‘, ich suche also noch weitere Waldhörner,“ erneuert die stellvertretende Obfrau den Aufruf, dass das Orchester neue Mitglieder sucht.
Von der Ersten Republik zu Twitter und Facebook
Das Blasorchester der Wiener Netze hat eine lange Tradition, die bis ins Jahr 1920 zurückreicht. In einer Zeit also, in der die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges noch deutlich zu spüren waren, taten sich einige Gaswerksmitarbeiter zum gemeinsamen Musizieren zusammen und gründeten das „Orchester der Bediensteten der Wiener Städtischen Gaswerke“.
Nur dem Ideenreichtum einiger Musiker während des Zweiten Weltkriegs ist es zu verdanken, dass ein Großteil des Notenarchivs vor dem Bombenkrieg verschont blieb. Die Noten wurden in verschiedene Dienststellen der Gaswerke ausgelagert, so wurden nicht alle durch die Brände nach den Fliegerbomben zerstört.
Seit vielen Jahren wird das Blasorchester der Wiener Netze regelmäßig eingeladen, festliche Anlässe mitzugestalten. Auftritte bei den Wiener Festwochen, bei der Weihnachtsbaum-Beleuchtung auf dem Wiener Rathausplatz, aber auch für wohltätige Zwecke stehen immer wieder auf dem Programm.
Einen musikalischen Einblick für Zuhause bekommen Sie nachstehend:
Die Konzerte und Auftritte zur 100-Jahr-Feier des Wiener Netze-Blasorchesters wurden Großteils auf 2021 verschoben. Informationen zu den nächsten Auftritten und Wissenswertes über das Blasorchester gibt es hier: www.wienernetze.info